
Bild von 🌼Christel🌼 auf Pixabay
In einer Welt, die uns täglich zur Eindeutigkeit drängt – „bist du dafür oder dagegen?“ – wirkt das Zweifeln fast schon wie ein Anachronismus. Dabei ist genau das die eigentliche Denkleistung: innehalten, hinterfragen, Positionen nicht vorschnell einnehmen. Hannah Arendt, eine der bedeutendsten politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts, sagte dazu einmal:
„Commitment kann dich leicht an einen Punkt bringen, an dem du nicht mehr denkst.“
Dieser Satz hat mich getroffen. Denn er widerspricht dem gängigen Bild, wonach Menschen mit klarer Haltung automatisch auch reflektiert seien. Arendt drehte es um: Zu frühe Klarheit kann Denken verhindern.
Warum wir Positionen so lieben
Unser Gehirn liebt Muster, Klarheit und Energieeffizienz. Wer sich einmal eine Meinung gebildet hat, möchte ungern zurück auf Los. Neurowissenschaftler sprechen von kognitiver Dissonanz – einem unangenehmen Zustand, wenn neue Informationen nicht zur bestehenden Überzeugung passen. Was dann folgt, ist, dass wir diesen Zustand umgehen, indem wir widersprüchliche Impulse einfach ausblenden. So entstehen innere Filterblasen – nicht nur in sozialen Medien, sondern auch im Kopf.
Was das mit mir zu tun hat
Ich erinnere mich an eine Situation während der Corona-Pandemie. In den ersten Monaten war ich überzeugt: Online-Seminare sind ein Notnagel – aber niemals eine gleichwertige Alternative zum Präsenzraum. Als Coach und TA-Trainer lebe ich von Beziehung, von nonverbalen Signalen, von physischer Präsenz.
Dann kam ein Moment, der meine Überzeugung ins Wanken brachte: Ein Teilnehmender eines Online-Workshops sagte in der Abschlussrunde, er habe sich selten so offen zeigen können wie in diesem digitalen Setting – „weil ich zu Hause war und mich sicher gefühlt habe“. Ich war irritiert – und dann neugierig. Vielleicht war mein festes Bild vom „echten Kontakt“ in Präsenz selbst nur ein Stück Bezugsrahmen. Ich habe begonnen, differenzierter hinzuschauen – nicht sofort meine Meinung über Bord geworfen, aber auch nicht länger daran festgehalten, als wäre sie ein Glaubenssatz.
Zweifel ist kein Rückzug. Zweifel ist Bewegung.
Zwischen Schwarz und Weiß: der Bezugsrahmen
In der Transaktionsanalyse sprechen wir vom Bezugsrahmen – dem inneren Denk- und Deutungsfeld, durch das wir die Welt wahrnehmen. Er entsteht durch Erfahrungen, Vorbilder, Kultur und Biografie. Der Bezugsrahmen hilft uns, nicht bei jedem Impuls neu nachdenken zu müssen. Aber er wird dann zum Problem, wenn er zu eng, zu rigide wird. Wenn wir ihn nicht mehr hinterfragen.
Zweifel ist in diesem Sinne wie ein Fenster, das man einen Spalt weit öffnet. Es lässt frische Luft rein – vielleicht irritierend, aber klärend.
Warum das in Change-Prozessen so entscheidend ist
In Veränderungsprozessen – ob in Organisationen oder im persönlichen Leben – wird oft zu schnell nach dem Neuen gerufen: „Wofür stehst du jetzt?“ Doch Veränderung braucht erst einmal ein kurzes Nichtwissen. Der Raum dazwischen – zwischen dem Alten, das nicht mehr trägt, und dem Neuen, das noch nicht klar ist – ist unbequem. Und zugleich fruchtbar.
Hannah Arendt nannte das „Denken ohne Geländer“ – ein Denken, das sich nicht an fertige Kategorien klammert, sondern sich selbst ernst nimmt: in der Unsicherheit, im tastenden Urteilen, im wiederholten Infragestellen.
Und wie geht das im Alltag?
Zweifel bedeutet nicht, ewig zu zögern. Es geht darum, den Moment zwischen Reiz und Reaktion zu verlängern. Einen Widerspruch nicht sofort aufzulösen. Sich nicht sofort zur einen Seite zu bekennen, wenn die Wirklichkeit vielleicht zwei Seiten und eine Tiefe hat.
Vielleicht hilft eine kleine Übung: Nimm dir eine Meinung, die du für selbstverständlich hältst – zum Beispiel zu Mobilität, Ernährung, Bildung, Klima. Und dann frage dich: Was würde eine Person sagen, die genau das Gegenteil denkt – und was daran könnte berechtigt sein?
Du wirst überrascht sein, wie schnell dein Denken weiter wird – ohne dass du deine Werte verlierst.
🎧 Wenn dich das Thema interessiert, dann hör gern in unsere aktuelle Podcast-Episode rein:
„Denken ohne Geländer – Warum Zweifel dein bestes Change-Tool ist“
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Fazit:
Zweifeln ist keine Schwäche. Es ist ein Zeichen von Reife. Wer keine festen Geländer braucht, bleibt beweglich – und ist damit besser gerüstet für eine Welt im Wandel.