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Sofortismus – Wenn „gleich – sofort“ zum Lebensmotto wird

Immer online, immer sofort: Der Sofortismus macht uns zugleich effizient und erschöpft. Warum permanentes Reagieren Kreativität, Beziehungen und Gesundheit kostet – und wie bewusste Pausen neue Qualität schaffen – lesen Sie im aktuellen Blogbeitrag und hören Sie in unserer Podcast-Episode.

Scrollen, tippen, antworten – bevor das Handy vibrierend zur Ruhe kommt, springt schon die nächste Benachrichtigung auf. Willkommen im Zeitalter des Sofortismus: dem gesellschaftlichen Reflex, jede Frage, jede Sehnsucht, jedes noch so kleine Bedürfnis unverzüglich zu bedienen. Was nach Komfort klingt, hat eine überraschend scharfe Kehrseite.

Ein kurzer Blick zurück – Geduld als „Old School“-Tugend

Von Aristoteles bis Bonhoeffer galt Geduld als Charakterstärke. Hegel warnte sogar: Wer das Ziel ohne den Weg wolle, verlange das Unmögliche. Heute scheint genau das Normalität zu sein: Same-Day-Delivery statt Vorfreude, Streaming-Binge statt wöchentlicher Folgenabend, Chat-Antwort in Minuten statt in Tagen. Die Botschaft lautet: Wartezeit ist schlechte Zeit.

Was der Sofortismus anrichtet

  1. Stress & Fehlerkultur
    Studien zeigen, dass alle paar Minuten eintreffende Mails oder Nachrichten die Konzentration ruinieren. Schnelligkeit gewinnt, Tiefgang verliert – in Büros wächst der Stapel kleiner Fehler, weil niemand mehr „nur eine Sache“ tut.
  2. Flüchtiger Dialog
    Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht vom „kommentierenden Sofortismus“: Wir reagieren, noch bevor wir überlegen. Ergebnis sind hitzige Threads, in denen jede Seite sofortige Empörung liefert, aber selten Verständnis.
  3. Verlernte Frustrationstoleranz
    Kinder, die beim kleinsten Gähnen das Tablet in die Hand bekommen, lernen kaum noch Langeweile auszuhalten – dabei ist ebendiese Leere laut Hirnforscher Gerald Hüther der Nährboden für Kreativität und Selbststeuerung.

Ein persönlicher Aha-Moment

Neulich saß ich im Café und wartete auf eine Freundin. Zehn Minuten Verspätung – früher hätte ich den Blick schweifen lassen, vielleicht ein paar Gedanken sortiert. Stattdessen griff ich reflexhaft zum Smartphone, tippte drei Mails, beantwortete zwei Messenger-Fragen und googelte, warum Flat Whites eigentlich so heißen. Als meine Freundin kam, war mein Kopf bereits voller „To-dos“. Das Treffen fühlte sich nicht gemütlich, sondern gehetzt an – und das lag nicht an ihr, sondern an meinem inneren „Sofort-Muss“. Erst da merkte ich: Ich hatte die zehn freien Minuten gar nicht als Geschenk, sondern als Lücke empfunden, die sofort zu füllen war.

Warum wir trotzdem nicht zum Steinzeit-Tagebuch zurückmüssen

Sofortismus hat auch eine helle Seite. Spendenaktionen, Nachbarschaftshilfe, spontane Proteste – all das gelingt, weil Menschen sich binnen Minuten vernetzen. Die Frage ist also nicht „Digital oder analog?“, sondern: Wie viel Echtzeit tut mir gut – und wann schalte ich bewusst in Zeitlupe?

Drei Mikro-Strategien für den Alltag

  1. Der Zweitgedanke
    Vor dem Absenden einer Nachricht: zweimal tief einatmen. Was klingt wie ein Yoga-Mantra, schenkt dem Gehirn exakt die Millisekunden, in denen es zwischen Impuls und Reaktion wählen kann.
  2. Offline-Fenster fest einplanen
    Eine Stunde am Morgen oder Abend ohne Handy schafft messbar mehr Ruhe. Wer es ausprobiert, staunt, wie laut Vögel plötzlich zwitschern können.
  3. Bewusste Beziehungspflege
    Ein echtes Gespräch pro Tag – ohne Blick aufs Display. So erfährt das innere Kind, das laut Transaktionsanalyse um sofortige Bestätigung buhlt, dass es auch ohne Dauer-Feedback gesehen wird.

Fazit – Gut Ding will wieder Weile haben

Sofortismus ist kein Schicksal, sondern ein Trend, den wir gestalten können. Er verlangt nach digitalen Umgangsformen, die Schnelligkeit dort nutzen, wo sie hilft, und Pausen dort einbauen, wo sie nötig sind. Wer wieder lernt zu warten – auf eine Nachricht, auf eine Idee, auf sich selbst – gewinnt nicht nur Gelassenheit, sondern oft auch Qualität: in Entscheidungen, Beziehungen und im eigenen Kopf.

Neugierig geworden? In unserer aktuellen Podcast-Folge Permanent Change sprechen wir ausführlich – und durchaus kontrovers – über Ursachen, Nebenwirkungen und Auswege aus dem Sofortismus. Jetzt reinhören unter: https://open.spotify.com/episode/2YbN5SoTLRnIFmj02GUWrS.

Eine Antwort auf „Sofortismus – Wenn „gleich – sofort“ zum Lebensmotto wird“

Hallo Thomas, danke für den tollen Artikel, auch wenn Du mir absolut aus der Seele sprichst, tut es mir immer wieder gut auch mich mit diesen Hamsterrädern und dem darunterliegenden zu beschäftigen, und ja, dein Artikel war so spannend anmoderiert, da habe ich ihn sofort gelesen 🙂 … ich werde mir dein Thema und Deinen Rat heute mit in meinen Tag nehmen, vielen Dank dafür und ganz liebe Grüße Antje

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