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„Das gab’s bei uns früher nicht!?“ – Warum Generationen heute aneinander vorbeireden (und wie wir wieder zueinander finden)

„Das gab’s bei uns früher nicht.“ – diesen Satz hörst du vielleicht von Eltern, Großeltern oder Kolleg*innen, wenn es um psychische Gesundheit, queere Identitäten oder den offenen Umgang mit Gefühlen geht. Die Wahrheit ist: Vieles gab es schon – nur war es unsichtbar, tabuisiert oder hatte keinen Namen. Heute sprechen wir offener darüber, und genau das erzeugt Reibung zwischen den Generationen.

Was hier wirklich aufeinanderprallt

Aus transaktionsanalytischer Sicht (TA) begegnen sich im Familien- oder Teamgespräch oft im kritischen Eltern-Ich und im rebellischen Kind-Ich: Der eine mahnt („Reiß dich zusammen!“), der andere rebelliert oder zieht sich zurück. Verständigung entsteht erst, wenn beide ins Erwachsenen-Ich wechseln – wertschätzend, neugierig, im Hier-und-Jetzt. Auch hilfreich: die OK–OK-Haltung („Ich bin ok, Du bist ok“) und der Blick auf unsere Lebensskripte, die wir heute bewusst weiter- oder umschreiben können (Script-Helix).

Ein persönliches Beispiel

Vor einigen Monaten saß ich mit einem Vater (Ende 40) und seiner erwachsenen Tochter (19) in einer Konfliktmoderation. Er: „Diese ganzen Diagnosen – das macht man sich doch nur leicht.“ Sie: „Papa, ich habe Panikattacken. Ich will nicht schwach sein, ich brauche Verständnis.“
Wir hielten inne und ich lud beide ein, einen Satz im Erwachsenen-Ich zu formulieren. Der Vater sagte nach kurzer Stille: „Ich merke, dass mich das verunsichert, weil es das in meiner Jugend so nicht gab. Ich möchte verstehen, wie das für dich ist.“ Die Tochter antwortete: „Ich weiß, dass dich das stresst. Mir hilft es, wenn du fragst, statt es kleinzureden.“
In diesem Moment wechselte die Atmosphäre: weniger Abwehr, mehr Neugier. Später lachten beide sogar darüber, wie unterschiedlich ihre Informationswelten sind – Tageszeitung vs. TikTok. Genau dort beginnt Verständigung: nicht im Wettstreit der Wahrheiten, sondern im gemeinsamen Übersetzen.

Warum das Thema größer ist als „richtig“ oder „falsch“

Historisch hat sich viel verändert: Psychische Gesundheit ist entstigmatisiert, queere Lebensentwürfe sind sichtbarer, Gefühle haben Raum bekommen. Für Ältere, die auf „Durchhalten“ sozialisiert wurden, wirkt das manchmal wie Verweichlichung; für Jüngere, die mit Sprache für Vielfalt aufwachsen, ist es schlicht Normalität. Beide Perspektiven sind plausibel – nur eben anders geprägt. Genau deshalb lohnt es sich, statt zu urteilen die Prägungen zu verstehen.

Fünf Brücken, die du sofort bauen kannst

  1. Vom Bewerten zum Befragen: „Wie erlebst du das?“ statt „So ist das!“
  2. Begriffe übersetzen: Erkläre Self-Care oder nichtbinär mit Bildern, die für dein Gegenüber Sinn ergeben – ohne Dozentenmodus.
  3. Gefühle validieren: Erst verstanden fühlen, dann Lösungen suchen.
  4. Gemeinsame Werte sichtbar machen: Sicherheit und Selbstbestimmung sind legitim – die Gewichtung variiert.
  5. Neues Familienskript schreiben: Haltet fest, wie ihr künftig sprechen wollt (z.B. „Wir fragen nach, bevor wir urteilen“).

Ein Mini-Leitfaden für dein nächstes Gespräch

  • Check-In: „Worüber willst du heute reden?“
  • Rollenwechsel: Ertappt ihr euch im Eltern-/Kind-Ping-Pong – kurzer Stopp, beide formulieren einen Satz aus dem Erwachsenen-Ich.
  • OK–OK-Reminder: Leise für dich: „Ich bin ok. Du bist ok“ – „Ich bin wertvoll, begabt und geliebt! – Du bist wertvoll, begabt und geliebt!“
  • Next Step: „Was probieren wir bis nächste Woche aus?“ (z.B. wöchentlicher 20-Minuten-Talk ohne Ratschläge)

Warum sich der Aufwand lohnt

Wenn wir Generationen-Gespräche deeskalieren, gewinnen alle: Ältere fühlen sich mit ihrer Lebensleistung gesehen, Jüngere mit ihren Gegenwartsfragen ernst genommen. Und ganz pragmatisch: Familien entscheiden gelassener, Teams arbeiten produktiver, Beziehungen werden tragfähiger. Genau dafür steht die TA – co-kreativ Beziehungen gestalten, damit Unterschied nicht trennt, sondern ergänzt.


Wenn dich das Thema anspricht und du tiefer eintauchen möchtest: In unserer aktuellen Podcast-Episode „Das gab’s bei uns früher nicht!? – Generationen, Psyche & Queerness“ spreche ich mit Thomas Wehrs über Reibung, Respekt und handfeste Tools für deinen Alltag. Hier anhören: https://open.spotify.com/episode/0zc0tByCaFNiCuN3RzXN5s

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